Der DGfM-Fachausschuss „Pilzverwertung und Toxikologie“ hat die nachfolgenden Informationen und Beschreibungen der Vergiftungssyndrome durch Auswertung der im Kapitel „Literatur und Quellen“ genannten Veröffentlichungen sowie aufgrund eigener Erfahrungen sorgfältig erstellt (Stand 04.12.2015, aktualisiert 22.01.2023). Grundlage war insbesondere R. Flammer (2014): Giftpilze, AT-Verlag Aarau u. München. 320 S.
Die nachfolgenden Informationen sollen vor allem Pilzsachverständigen (PSV) aber auch medizinischem Personal oder anderen Interessierten den aktuellen Wissensstand vermitteln.
Diese Informationen sind für den PSV und den Arzt wichtig:
- Wer – Wer hat (sonst noch) von den Pilzen gegessen?
- Wann – Wann wurden die Pilze verzehrt?
- Welche – Welche Beschwerden sind wann und in welcher Reihenfolge aufgetreten?
- Wie viele Zubereitung und Menge der verzehrten Pilze?
- Wiederholte Mahlzeiten in Folge?
- Was – Als welche Art wurden die Pilze gesammelt oder gekauft?
- Alkohol – Wurde Alkohol getrunken?
- Medikamente – Wurden Medikamente eingenommen und wenn ja, welche?
Inhalt
1.1. Amatoxin-Syndrom (Phalloides-Syndrom)
1.6. Acetaldehyd-Syndrom (Coprinus-Syndrom)
1.7. Paxillus-Syndrom (Immunhämolyse)
1.9. Neurologisches Morchella-Syndrom
1.10. Gastrointestinales Syndrom
1.13. Kontamination, Überalterung (unechte Pilzvergiftungen)
2.4. Nierentoxisches Amaniten-Syndrom (Proxima-Syndrom)
2.6. Shiitake-Syndrom (Flagellanten-Dermatitis)
2.7. Polyporsäure-Syndrom (Hapalopilus-Syndrom)
2.8. Pilze mit Verdacht auf Kanzerogenität oder Mutagenität
2.9. Verunreinigung von Trockenpilzen durch Pflanzenreste
3.1. Yunnan sudden death syndrome
1. Häufige Syndrome ▲
1.1. Amatoxin-Syndrom (Phalloides-Syndrom) ▲
Symptome: Heftige Brechdurchfälle, anschließend scheinbare Besserung, jedoch Beginn der Leberschädigung (Ikterus) bis zum Leberzerfall, Störung der Blutgerinnung, Nierenversagen
Latenzzeit: 8–12 Stunden (Amplitude 4–36 Stunden)
Pilzarten: Grüner-, Frühlings-und Kegelhütiger Knollenblätterpilz (Amanita phalloides, A. verna, A. virosa), Gifthäublinge (Galerina marginata agg.), Fleischrosa Schirmling (Lepiota subincarnata), Fleischbräunlicher Schirmling (L. brunneoincarnata), Lilabrauner Sandschirmling (L. brunneolilacea), Olivblättriger Schirmling (Lepiota elaiophylla). Kleine Schirmlinge (Lepiota spp.) mit bräunlichen und roten Pigmenten sind verdächtig, Amatoxine zu enthalten.
Im Runzeligen Glockenschüppling (Conocybe filaris) wurde in den USA Amanitin nachgewiesen. Untersuchte deutsche Kollektionen enthielten kein Amanitin.
Gifte: Hauptsächlich Amatoxine; je nach Art noch weitere Toxine wie z. B. Phallotoxine, Virotoxine, Hämolysine
Labor: Quick-Abfall, Anstieg der Leberwerte, Kreatinin und Bilirubin
Antidot: Silibinin (Legalon SIL ®)
Bemerkungen: Nachweis: ELISA-Test, Wieland-Test
1.2. Gyromitrin-Syndrom ▲
Symptome: heftige Brechdurchfälle, zusätzlich Schädigung des zentralen Nervensystems (Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen), Leber- u. Nierenschädigung, Hämolyse, Koma, selten Methämoglobinämie
Latenzzeit: 6–24 Stunden (Amplitude 2–25 Stunden)
Pilzarten: Frühlings-Giftlorchel (Gyromitra esculenta agg.), Helm-Kreisling (Cudonia circinans), Riesenlorchel (Gyromitra gigas).
In nordamerikanischen Aufsammlungen der Dottergelben Scheiben-Lorchel (Gyromitra
leucoxantha) konnte Gyromitrin nachgewiesen werden.
Gifte: Gyromitrin, Monomethylhydrazin (MMH, kanzerogen im Tierversuch)
Labor: Myoglobin im Urin, Anstieg der Leberwerte, Kreatinin und Harnstoff
Antidot: Hochdosiert Pyridoxin (Vit. B 6 )
Bemerkungen: Nach WHO (Weltgesundheitsorganisation) sollten Lorcheln generell gemieden
werden. Hydrazinverbindungen gelten als genotoxisch, teratogen und krebserregend. Außerdem gibt
es Hinweise aus Arbeiten von Lagrange et al, dass Gyromitrin und/oder strukturell ähnliche
Verbindungen möglicherweise schwere Erkrankungen des motorischen Nervensystems auslösen
können (Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS).
1.3. Orellanus-Syndrom ▲
Symptome: Durst, Kopfschmerzen, trockener Mund, Nierenschmerzen, Versagen der Urinproduktion, akutes Nierenversagen, i. d. R. keine Magen-/Darm-Symptomatik
Latenzzeit: Tage, bis zu 3 Wochen
Pilzarten: Orangefuchsiger Raukopf (Cortinarius orellanus), Spitzgebuckelter Raukopf
(Cortinarius rubellus, Syn. Cortinarius speciosissimus). In nordamerikanischen Aufsammlungen
des Geschmücktes Gürtelfuß (Cortinarius armillatus) konnten geringe Mengen von Orellanin
nachgewiesen werden.
Verdächtig: Schwarzgrüner Klumpfuß (Cortinarius atrovirens), Orangeblättriger Zimt-Hautkopf
(Cortinarius cinnamomeus), Rhabarberfüßiger Raukopf (Cortinarius callisteus), Goldgelber
Raukopf (Cortinarius gentilis), Blutblättriger Hautkopf (Cortinarius semisanguineus). Alle
Schleierlinge (Cortinarius sp.) mit gelben, orangen, grünen und roten Pigmenten sind
giftverdächtig.
Der Leuchtendgelbe Klumpfuß (C. splendens) enthält kein Orellanin, sondern eine andere, noch nicht sicher identifizierte nierentoxische Substanz.
Gifte: Orellanin, Orellin
Labor: Anstieg von Kreatinin und Harnstoff
Bemerkungen: Nachweise: Eisen-III-Chlorid-Reaktion nach PÖDER u. MOSER: Umfärbung nach violett; Nierenpunktat
1.4. Muscarin-Syndrom ▲
Symptome: Cholinerg: Schweißausbrüche, Speichelfluss, Tränenfluss, verlangsamter Puls, enge Pupillen, Sehstörungen, akut heftig einsetzende Brechdurchfälle
Latenzzeit: 15 Minuten bis 2 Stunden
Pilzarten: Ziegelroter Risspilz (Inocybe erubescens), Erdblättriger Risspilz (I. geophylla), Kegelhütiger Risspilz (I. rimosa) und viele weitere Risspilzarten (Inocybe spp.), Feldtrichterling (Clitocybe dealbata), Rinnigbereifter Trichterling (C. rivulosa agg.), Duft-Trichterling (C. suaveolens agg., inkl. C. fragrans) sowie weitere Trichterlinge (Clitocybe spp.), Rettich-Helmling (Mycena pura), Rosa Rettich-Helmling (M. rosea)
Gifte: Muscarin
Antidot: Atropin
Bemerkungen: Achtung: Initial kann auch eine Panther- und Fliegenpilzvergiftung (Pantherina-Syndrom) mit cholinerger Symptomatik einhergehen.
1.5. Pantherina-Syndrom ▲
Symptome: Anticholinerge Wirkung: weite Pupillen (Mydriasis), trockene, warme Haut, rascher Puls, hoher Blutdruck, oft im Wechsel mit cholinergen Symptomen, nicht selten als Initialreaktion oder bei leichten Vergiftungen: Pupillen eng (Miosis), Haut feucht, kühl, Puls langsam, Blutdruck tief, Speichelfluss.
Erbrechen (selten), Halluzinationen, Krampfgeschehen nicht selten, Koma, nach Rauschzustand finaler Tiefschlaf
Latenzzeit: 15 Minuten bis 4 Stunden
Pilzarten: Pantherpilz (Amanita pantherina), Fliegenpilz (A. muscaria), Königsfliegenpilz (A. regalis), Narzissengelber Wulstling (A. gemmata) vermutlich toxinfreie u. toxinhaltige Rassen bzw. bei Verzehr größerer Mengen?
Gifte: Ibotensäure, Muscimol
Antidot: Physostigmin (Anticholium ®) nur bei lebensbedrohlicher Vergiftung
Bemerkungen: In schweren Fällen überwiegt die anticholinerge Symptomatik.
1.6. Acetaldehyd-Syndrom (Coprinus-Syndrom) ▲
Symptome: plötzliche Hautrötung in Gesicht, Nacken, Brust, Hitzegefühl, Schweiß, Schwindel, Atemnot, Herzrasen
Latenzzeit: Minuten bis 1 Stunde
Pilzarten: Grauer Faltentintling (Coprinopsis atramentaria), Spechttintling (C. picaceus), Coprin in geringen Mengen in weiteren Tintlingen.
Der Stachelschuppiger Schirmling (Echinoderma asperum) enthält ein noch unbekanntes Toxin.
Verdächtig: Keulenfüßiger Trichterling (Ampulloclitocybe clavipes)
Gifte: Coprin, unbekannte Gifte
Antidot: Fomepizol in lebensbedrohlichen Fällen
Bemerkungen: Vergiftungserscheinungen nur in Verbindung mit Alkohol bis zu 3 Tagen vor oder nach der Mahlzeit.
1.7. Paxillus-Syndrom (Immunhämolyse) ▲
Symptome: Auftreten nach wiederholtem Verzehr, leichtere Symptome bei vorangegangenen Mahlzeiten, Beschwerdefreiheit von Tischgenossen. Übelkeit, Bauchkoliken, Brechdurchfälle, Kollaps, Schmerzen im Oberbauch, im Rücken und in den Armen, Atemnot, Kreislaufbeschwerden, extreme Schwäche, Gelbsucht, dunkler Urin, Blut im Urin, Niereninsuffizienz, akutes Nierenversagen nach 1–2 Tagen, Leberschaden, Lungenversagen
Latenzzeit: 15 Minuten bis 2 Stunden (nach bis vor Jahren vorausgegangenen häufigen Pilzmahlzeiten)
Pilzarten: Kahler Krempling (Paxillus involutus agg.)
Gifte: unbekanntes Antigen
Labor: freies Hämoglobin im Plasma, Haptoglobin-Abfall
Bemerkungen: Antigen-Antikörper-Reaktion. Systematisch werden verschiedene Kremplingsarten unterschieden.
Aufgrund eines beschriebenen Falles im Jahre 1966 ist der Butterpilz (Suillus luteus) unter Verdacht
geraten eine Immunhämolyse auslösen zu können. Da seither von dieser viel gegessenen Art keine
weiteren Vergiftungsfälle bekannt geworden sind, werten wir die Art wieder als Speisepilz.
Nachweis: Hämagglutinationstest nach LEFÈVRE
1.8. Psilocybin-Syndrom ▲
Symptome: Benommenheit, Schwindel, Unruhe, Gleichgewichtsstörungen, Magen-Darm-Symptomatik, Tobsucht, Rauschzustand, Halluzinationen
Latenzzeit: 15 Minuten bis 4 Stunden
Pilzarten: Spitzkegeliger Kahlkopf (Psilocybe semilanceata), Blauender Kahlkopf (Psilocybe
cyanescens), Kubanischer Kahlkopf (Psilocybe cubensis), weitere Kahlkopfarten (Psilocybe spp.),
Arten der Gattungen Düngerlinge (Panaeolus spp.), einige Risspilze (Inocybe spp.), Dachpilze
(Pluteus spp.), Flämmlinge (Gymnopilus spp.), Häublinge (Galerina spp.), tropische Düngerlinge
(Copelandia spp.). Als verdächtig gilt der Krönchenträuschling (Psilocybe coronilla),
möglicherweise handelt es sich hierbei um unterschiedliche Sippen.
Gifte: Psilocybin, Psilocin; weitere unbekannte Stoffe
Bemerkungen: Achtung Betäubungsmittelgesetz! Flashbacks möglich.
1.9. Neurologisches Morchella-Syndrom ▲
Symptome: Kleinhirn- und Hirnstammsymptomatik: Zittern, Schwindel, Taubheitsgefühl, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen mit engen oder weiten Pupillen, Unruhe, gelegentlich Magen-Darm-Symptomatik nach 5 Stunden.
Latenzzeit: ± 12 Stunden
Pilzarten: alle Morchel-Arten (Morchella spp.), Böhmische Verpel (Verpa bohemica)
Gifte: unbekanntes hitzestabiles Neurotoxin
Bemerkungen: Symptome treten in der Regel nach Verzehr von größeren Mengen auf. Zumeist bei
der Zubereitung von frischen Morcheln, selten sind Fälle nach Genuss von getrockneten Morcheln.
Rückbildung der Symptome innerhalb von 1–72 Stunden, meist nach 12 Stunden
1.10. Gastrointestinales Syndrom ▲
Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Durchfall
Latenzzeit: 15 Minuten bis 4 Stunden
Pilzarten: Karbolegerlinge (Agaricus xanthoderma agg., Agaricus pseudopratensis, Agaricus freirei), Gerandetknolliger Safranschirmling (Chlorophyllum brunneum), Speitäublinge (Russula emetica agg.), Bruchreizker (Lactarius helvus), Olivbrauner Milchling (Lactarius turpis), Riesenrötling (Entoloma sinuatum, Syn. Entoloma lividum), Tigerritterling (Tricholoma pardinum), Schönfußröhrling (Caloboletus calopus), Satansröhrling (Boletus satanas), Spindeliger Rübling (Gymnopus fusipes), Bauchwehkoralle (Ramaria pallida), Grünblättriger Schwefelkopf (Hypholoma fasciculare), Kegeliger Saftling (Hygrocybe conica), Fälblinge (Hebeloma spp.), Kartoffelboviste (Scleroderma spp., siehe auch Scleroderma-Syndrom) und weitere Arten aus verschiedenen Gattungen, Kahler Krempling (Paxillus involutus) – zur Unterscheidung vom Paxillus-Syndrom.
Der Gelbe Knollenblätterpilz (Amanita citrina) und der Porphyrbraune Wulstling (Amanita porphyria) enthalten das hitzelabile Toxin Bufotenin, welches weitgehend im Magen-/Darmtrakt eliminiert wird. Dennoch gibt es Vergiftungsberichte auch nach Erhitzen.
Gifte: verschiedene, z. T. unbekannte Giftstoffe
Bemerkungen: Achtung! Kurze Latenzzeiten schließen eine schwere Vergiftung mit Arten langer Latenz nicht aus.
1.11. Omphalotus-Syndrom ▲
Symptome: Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall, 1–5 (–7) Tage anhaltend, Schwitzen und Kopfschmerzen möglich, in einigen Fällen Blutdruck- und Herzfrequenzerniedrigung beschrieben, sehr selten neurologische Symptome
Latenzzeit: ½ bis 4 Stunden
Pilzarten: Dunkler Ölbaumtrichterling (Omphalotus olearius), Leuchtender Ölbaumpilz (O. illudens)
Gifte: Illudin S (ein Sesquiterpen)
1.12. Rohverzehr ▲
Erste Symptome: Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall
Latenzzeit: 15 Minuten bis 24 Stunden
Pilzarten: z. B. Kahler Krempling (Paxillus involutus), Hallimasch (Armillaria mellea agg.), Perlpilz (Amanita rubescens), Riesenschirmlinge (Macrolepiota spp.), Olivbrauner Safranschirmling (Chlorophyllum olivieri), Raustielröhrlinge (Leccinum spp., Leccinellum spp.), Rotstieliger Ledertäubling (Russula olivacea)
Viele Pilzarten – auch solche, die zubereitet als Speisepilze gelten – sind roh verzehrt giftig. Ihre hitzelabilen Giftstoffe werden erst durch gründliches Erhitzen (15 Minuten kochen oder braten) unschädlich gemacht. Teilweise haben sie roh verzehrt auch eine hämolytische und/oder agglutinierende Wirkung.
1.13. Kontamination, Überalterung (unechte Pilzvergiftungen) ▲
Pilze können Schwermetalle (Blei, Cadmium, Quecksilber) und radioaktive Substanzen (Cäsium-137, Strontium-90) akkumulieren. Pilze, insbesondere von Straßen- und Ackerrändern oder Industrieflächen können durch Dünger, Pestizide oder Schwermetalle belastet sein. Darüber hinaus kann der Schwarzblauende Röhrling (Cyanoboletus pulverulentus), unabhängig von der Bodenqualität, Arsen sehr selektiv aufnehmen. Des Weiteren akkumuliert der Kronenbecherling (Sarcosphaera coronaria) Arsen in größeren Mengen (Hyperakkumulator). Diese liegt hauptsächlich als Methylarsonsäure vor, in geringen Mengen jedoch auch als hochtoxische methylarsonige Säure.
In einigen Regionen Deutschlands, insbesondere Süd- und Ostbayern, sind z. B. Maronenröhrlinge, Semmelstoppelpilze, Birkenpilze und Kuhröhrlinge immer noch erheblich mit 137Cs und 90Sr belastet (siehe Radioaktivität in Pilzen).
Pfifferlinge im Handel waren mit dem Insektizid DEET kontaminiert, Steinpilze im Handel mit Nikotin; das BfR hält die festgestellten Mengen für gesundheitlich unbedenklich. In Zuchtpilzen wurden Pflanzenschutzmittel sogar als Mehrfachrückstände nachgewiesen. Das BfR warnte vor Salmonellen in Trockenpilzen.
Es wird vermutet, dass Pilze auf Eibenholz oder -nadeln in der Streuschicht Toxine der Eibe aufnehmen können (Vergiftungsfälle bekannt bei Schwefelporling [Laetiporus sulphureus] und Steinpilz [Boletus edulis]).
In Austernseitlingen (Pleurotus ostreatus) und Samtfußrüblingen (Flammulina velutipes), die an Goldregen (Laburnum) wuchsen, konnten keine Alkaloide nachgewiesen werden. Ein weiteres Problem ist die oft unkritische Haltung von Konsumenten gegenüber der schnellen Alterung und Fäulnis von Pilzen. Bereits verdorbene, angeschimmelte, unangenehm riechende Pilze dürfen nicht verzehrt werden.
2. Seltene Syndrome ▲
2.1. Equestre-Syndrom ▲
Symptome: Rhabdomyolyse (Muskelzerfall) mit Müdigkeit, Muskelschwäche, Muskelschmerzen, brauner Urin, bis hin zum Nierenversagen
Latenzzeit: 24–72 Stunden
Pilzarten: Grünling (Tricholoma equestre agg.), unter Verdacht auch der Gemeine Erdritterling (T. terreum)
Gifte: Grünling: Unbekanntes Myolysin; Gemeiner Erdritterling: Saponaceolide B u. M
Labor: Myoglobin im Urin, massive CK-Erhöhung, gilt nur für den Grünling (T. equestre), nicht für den Erdritterling (T. terreum)
Bemerkungen: Todesfälle nach Verzehr von Grünlingen sind bisher nur durch große und wiederholte Mahlzeiten an 2–3 aufeinander folgenden Tagen bekannt.
2014 ist der Gemeine Erdritterling (Tricholoma terreum) in Verdacht geraten ein Equestre-ähnliches Syndrom auszulösen (im Tiermodell ohne Anzeichen einer Rhabdomyolyse). Da keine Vergiftungsfälle mit T. terreum bekannt sind, werten wir die Art wieder als Speisepilz.
2.2. Pleurocybella-Syndrom ▲
Symptome: Schwäche, Tremor, Verwirrtheit, epileptische Anfälle, Koma, schlaganfall-ähnliches Krankheitsbild, keine gastrointestinalen Frühsymptome
Latenzzeit: Tage bis Wochen (1–31 Tage)
Pilzart: Ohrlöffelseitling, Ohrförmiger Weiß-Seitling (Pleurocybella porrigens)
Gifte: Pleurocybellaziridin
Bemerkungen: Der Pilz ist in Deutschland in den höheren Mittelgebirgen verbreitet. Vergiftungen sind bislang jedoch nur aus Japan bei Patienten mit vorbestehendem Nierenschaden bekannt.
2.3. Acromelalga-Syndrom ▲
Symptome: Brennen, starke Schmerzen und Überwärmung, Schwellung und Rötung bis Dunkelfärbung der Extremitäten, wiederkehrend, über Wochen anhaltend
Latenzzeit: 1–2 (–7) Tage
Pilzarten: Parfümierter Trichterling (Clitocybe amoenolens, Syn. Paralepistopsis a.), Bambustrichterling (Clitocybe acromelalga, Syn. Paralepistopsis a.)
Gifte: Acromelsäure
Bemerkungen: Syndrom-Bezeichnung nach der japanischen Art Clitocybe acromelalga. Schmerzen selbst durch starke Schmerzmittel kaum zu beeinflussen; Kälte lindert die Schmerzen. Bewegung und Wärme verstärken die Schmerzen.
2.4. Nierentoxisches Amaniten-Syndrom (Proxima-Syndrom) ▲
Symptome: Übelkeit, heftige Brechdurchfälle mit lang anhaltenden Erbrechen, reversibles Nierenversagen beginnend nach 1 ½–3 Tagen, bis zu 4 Wochen anhaltend
Latenzzeit: 6–11 (–13) Stunden
Pilzarten: Ockerscheidiger Eierwulstling (Amanita proxima), Stachelschuppiger Wulstling (A. echinocephala), Graziler Wulstling (A. gracilior), Strandkiefernwulstling (A. boudieri)
Gifte: A. gracilior, A. boudieri, A. echinocephala enthalten das gleiche Toxin wie die nordamerikanische, toxische A. smithiana, wobei es sich um (eine) aminhaltige Substanz(en) handelt. Die genaue Struktur ist zur Zeit noch ungeklärt.
Die Toxine von A. proxima sind gänzlich unbekannt – vor dem Genuss des Artenkomplexes A. ovoidea/A. proxima wird gewarnt.
Labor: Diskrete Leberwerterhöhung möglich
Bemerkungen: Achtung! Nierenversagen ist nicht zwingend auf orellaninhaltige Pilze zurückzuführen!
2.5. Scleroderma-Syndrom ▲
Symptome: wiederholt heftiges Erbrechen und Übelkeit, seltener Durchfall. Häufig zusätzlich ZNS-Symptome: Schwindel, Kopfschmerzen, Sehstörungen möglich (verschwommens Sehen bis hin zu reversibler Erblindung oder Farbsehstörungen), in einigen Fällen Blutdruck- und Herzfrequenzerniedrigung, evtl. Kollaps, sowie Abfall der Körpertemperatur.
Latenzzeit: (20-) 30 Minuten – 1,2 (-5) Stunden
Pilzarten: vermutlich alle Scleroderma-Arten
Nachweislich: S. citrinum, S. areolatum, S. cepa, S. verrucosum, S. polyrhizum
Gifte: unbekannt
2.6. Shiitake-Syndrom (Flagellanten-Dermatitis) ▲
Symptome: Peitschenhieb-ähnliche schmerzhafte Hautirritationen, hauptsächlich am Rücken. Symptomatik meist nur bei roh oder halbroh verzehrten Pilzen.
Latenzzeit: mehrere Stunden bis zu 2 (–5) Tage
Pilzarten: Shiitake (Lentinula edodes)
Gifte: Lentinan
Bemerkungen: Nur wenige Fälle bekannt, Heilung bis zu 38 Tage
2.7. Polyporsäure-Syndrom (Hapalopilus-Syndrom) ▲
Symptome: Urin violett, Erbrechen, Sehstörungen, Ataxie (Gangunsicherheit), akutes Nierenversagen, Nerven-, Leber- u. Nierenfunktion beeinträchtigt
Latenzzeit: ca. 12 Stunden
Pilzarten: Zimtfarbener Weichporling (Hapalopilus nidulans)
Gifte: Polyporsäure
Bemerkungen: Nur wenige Fälle in Deutschland bekannt. Violette KOH-Reaktion auf dem Fruchtkörper, Kochwasser färbt rosa bis violett.
2.8. Pilze mit Verdacht auf Kanzerogenität oder Mutagenität ▲
Symptome: keine bekannt
Pilzarten und Gifte:
Weißer Rasling (Leucocybe connata) – Lyophyllin und Connatin
Nebelkappe (Clitocybe nebularis) – Nebularin
Olivbrauner Milchling (Lactarius turpis) – Necatorin
Giftlorchel (Gyromitra esculenta agg.) – Gyromitrin
Lorcheln (Gyromitra spp.) – Hydrazinverbindungen
2.9. Verunreinigung von Trockenpilzen durch Pflanzenreste ▲
Symptome: Sofortiges, starkes Brennen in Mund, Speiseröhre, Magen, massive Schluckbeschwerden, Anschwellen der Schleimhäute, massiver Speichelfluss
Latenzzeit: Sofort
Pilzarten/Auslöser: Pflanzenreste aus der Familie der Aronstabgewächse (Araceae) und Gattung der Schweigrohre (Dieffenbachia) in getrockneten Steinpilzen. Mikroskopisch feine Nadeln als Träger löslicher Oxalate
Bemerkungen: Getrocknete Steinpilze (ggf. andere Trockenpilze), deklariert als Trockenware aus einem europäischen Land – Ursprungsland war jedoch China. In der Schweiz sind etwa > 12 Fälle bekannt.
3. Exotische Syndrome ▲
3.1. Yunnan sudden death syndrome ▲
Symptome: Übelkeit, Schwindel, Herzrasen, Erschöpfungszustände, bei 50 % der Patienten Brechdurchfälle, akuter Herztod
Latenzzeit: > 6 Stunden?
Pilzart: Trogia venenata
Gifte: 2-Amino-4-Hydroxy-Hexinsäure, 2-Amino-Hexinsäure, Gamma-Guanidinbuttersäure
Bemerkungen: Südwest-China
3.2. Russula subnigricans ▲
Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Rhabdomyolyse (Zerfall der quergestreiften Muskulatur), brauner Urin, ggf. Nierenversagen
Latenzzeit: 30 Minuten bis 2 Stunden
Pilzart: Russula subnigricans
Gifte: Cycloprop-2 ene-Karbonsäure
Labor: exzessive CK- Erhöhung, Myoglobin im Urin
Bemerkungen: Asien, Nordamerika. In Japan seit 50er Jahre bekannt.
4. Nachweismethoden ▲
- Zeitungspapier-Test nach WIELAND – Indiz für Amatoxingehalt in Pilzen
- ELISA-Test – Enzyme-linked Immunosorbent Assay für den Amanitin-Nachweis im Urin bzw. Blut
- LC-MS-Methoden - Liquid Chromatography-Mass Spektrometry (Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung) für den Amatoxinnachweis in Urin und Blut
- Orellanin-Test – Nachweis von Orellanin und Orellin bei einer Vergiftung durch Cortinarius orellanus oder C. rubellus: Test nach PÖDER und MOSER an frischen oder getrockneten Pilzen (Eisenchloridlösung) sowie der Giftnachweis im Nierenpunktat
- Hämagglutinations-Test nach LEFÈVRE – Nachweis einer Immunhämolyse beim Paxillus-Syndrom
5. Literatur und Quellen ▲
- ANDERSSON C, KRISTINSSON J, GRY J (2008) Occurrence and use of hallucinogenic mushrooms containing psilocybin
Kailow Express ApS, 121 S. - BEDRY R, BAUDRIMONT I, DEFFIEUX G, CREPPY EE, POMIES JP, RAGNAUD JM, DUPON M, NEAU D, GABINSKI C, DE WITTE S, CHAPALAIN JC, BEYLOT J, GODEAU P (2001) Wild-Mushroom Intoxication as a Cause of Rhabdomyolysis. New England Journal of Medicine 345(11): 798–802. (DOI:1056/NEJMoa010581)
- BERNDT S (2010) Neurologisches Syndrom nach Morchelgenuß. Zeitschrift für Mykologie 76(1): 7-12.
- BfR - Bundesinstitut für Risikobewertung (2002) Vorsicht bei Verwendung getrockneter Pilze! BfR-Presseinformation 6/2002. (Online, Abruf 11.11.2016)
- BfR - Bundesinstitut für Risikobewertung (2009) DEET-Rückstände in Pfifferlingen aus Osteuropa sind kein Gesundheitsrisiko. BfR-Stellungnahme 34/2009. (Online, Abruf 11.11.2016)
- BfR - Bundesinstitut für Risikobewertung (2009) Nikotin in getrockneten Steinpilzen: Ursache der Belastung muss geklärt werden. BfR-Stellungnahme 9/2009. (Online, Abruf 11.11.2016)
- BIAGI M (2014) Investigations into Amanita ovoidea (Bull.) Link.: Edible or Poisonous? Natural Resources 25(3): 225–232. (DOI: 4236/nr.2014.56021)
- BRAEUER S, GOESSLER W, KAMENIK J, KONVALINKOVA T, ZIGOVA J, BOROVOCKA J (2018) Arsenic
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- DGfM - Deutsche Gesellschaft für Mykologie (2014) Liste der Giftpilze. Fachbeirat Pilzverwertung und Toxikologie.
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